Ein Schöpfungsmythos

 

 

 

 


Weinend lag das Mädchen in ihrem Krankenhausbett. Auch der zweite Versuch, sich ihr Leben zu nehmen, war misslungen. Wieder war sie immer noch hier. Immer noch fand sie keinen Sinn. Nach wie vor wusste sie nicht, warum, wozu sie hier bleiben sollte.
„Da ist so wenig, Liebe, so wenig Schönheit, so wenig, was Spaß macht. Nur Kampf und Ärger und ewiges Einerlei. Ich versteh nicht, was ich damit zu tun haben soll,“ dachte sie. „Warum glaubt immer irgendjemand, dass er mich ‚retten’ muss? Ich hab keinen Bock auf den ganzen Kram hier, ist nicht wirklich schwer zu verstehen oder? Jeder, der denken kann, sieht es doch genauso wie ich, dass es komplett sinnlos ist, immer weiterzumachen. Aber alles leugnen und „durchhalten“ ist scheinbar leichter…“
In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine Frau trat ein. Sie kannte sie, eine Freundin ihrer Großmutter. Komische Person.
Das Mädchen drehte den Kopf weg. Sie wollte in Ruhe gelassen werden. Leise Schritte näherten sich ihrem Bett. Stille.
Sie fand das Schweigen bedrückend, belastend, wartete auf den unvermeidlichen Moment, wo es losging: die Fragen, Vorhaltungen, Tränen. Fürchtete sich vor den aufkommenden Schuldgefühlen, der Scham, versagt zu haben, dem Trotz, der Hilflosigkeit.
Stille. Als nichts geschah, entspannte sie sich etwas. Den Kopf zum Fenster gedreht, weg von dieser Frau, spürte sie, wie eine langsame Ruhe sich über sie legte, von außen. Innen war brodelndes Chaos, Angst, Überdruss, Ungewissheit.
Zorn. Soviel Trauer und Wut.
Sie lauschte mit abgewandtem Gesicht in diese Stille. Glaubte, die Worte nur zu fühlen, wusste nicht, ob sie sie tatsächlich hörte, träumte, dachte oder…



In der Geistigen Welt war Harmonie. Die Geistigen Wesen kannten ihren Platz. Sie hatten ihr Universum in alle Höhen und Tiefen, in alle Richtungen erkundet und ausgelotet und waren in Frieden.
Wäre da nicht die Idee gewesen.
Das Wissen, dass es noch etwas geben musste, dass das Große All-Eins noch etwas geschaffen hatte. Es näherte sich schon und alle waren aufgeregt, neugierig und voller Spannung, was es sei. Eine neue Dimension. Das nie Dagewesene, das Unerkundete, das Neue.

Materie.


Die Geistigen Wesen staunten. Was war das? Es fühlte sich völlig fremd an! Un-ja-, ungewöhnlich zumindest. Eher schon un-fassbar. Die Geistigen Wesen bemühten sich, es zu begreifen. Nur fehlten ihnen die Sinne, die nötig sind, Materie zu erfühlen. Sie versuchten, sie zu verstehen. Aber sie war zu fremd.

Da erkannten sie, dass es nur eine Möglichkeit gab, das Neue, das Fremde, die Materie zu erkunden. Sie mussten mit ihr verschmelzen, sich von ihr in Besitz nehmen lassen, eins werden mit ihr.

Einige wagten das Abenteuer.

Und für die Zurückgebliebenen war das Geschehen erstaunlich.
Die Materie war unerwartet machtvoll. Sobald ein geistiges Wesen mit ihr eins geworden war, hatte es die größten Schwierigkeiten, sich an seine geistige Natur zu erinnern. Oftmals vergaßen sie dieselbe ganz. Es ging nur noch um den Fortbestand und den Erhalt der Materie. Wenig Platz war für die Geistige Welt und das Vergessen war leicht.

Welch ein Abenteuer! Das Große All-Eins und alle seine Geschöpfe hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die Materie in Einklang zu bringen. Immer wieder vereinigte sich die Geistige Welt mit der Materie.


Viele Gefahren drohten. Es war so leicht zu vergessen, dass es darum ging, die Materie zu begreifen. Schnell geschah es, dass die Geistigen Wesen, die verschmolzen waren, glaubten, die Materie sei das Einzige, was existiert. Viele Zeitalter vergingen gar im Kampf zwischen Materie und Geistiger Welt. Für die Geistige Welt war es oft schwer, tatenlos zuzusehen, was in der materiellen Welt geschah. Aber sie durften nicht ungefragt eingreifen. Damit hätten sie den Wesen in der materiellen Welt die Erfahrungen genommen, die nötig sind, damit Materie und Geist verschmelzen können.
So sahen sie dem Vergessen zu. Das Große Göttliche aber vergisst nichts. Der Wunsch, der Wille zur Vollkommenheit ist die Grundlage des Seins.
Also bemüht sich die Geistige Welt, die Materie zu integrieren. Viel haben die Geistigen Wesen von der Materie gelernt. Körperlichkeit fühlt sich völlig anders an. Sie stellt andere Herausforderungen an ein Geistiges Wesen. In der materiellen Welt als Geistiges Wesen zu existieren, ist die größtmögliche Herausforderung. Sich an die eigene, geistige Natur zu erinnern, ist schwer. Und je besser eine materielle Wesenheit die Materie meistert, je mehr die Materie der Wesenheit dienen kann, desto schwieriger.


Das Mädchen hatte den Kopf gedreht und blickte der alten Frau ins Gesicht.

„Weißt Du“, sagte die, „wir Menschen haben es weniger leicht als Tiere oder Pflanzen oder Steine. Wir können die Materie bewegen, gestalten, herausfordern. Alle diese Möglichkeiten beschäftigen uns sehr. Es ist schwierig für uns, uns daran zu erinnern, dass wir alle auch Geistige Wesen sind. Und mancher und manchem wird die Last der Materie zu schwer. Wir werden träge, überdrüssig, wollen heim.
Das ist in Ordnung. Wir sollten uns nur vergewissern, dass wir wirklich alles getan haben, um dem Großen All-Eins, dass unser aller Mutter und Vater ist, bei seinem großen Abenteuer bestmöglich geholfen zu haben.
Es gilt, die Materie mit der Geistigen Welt zu vereinen. Das ist unsere Aufgabe, unser Job hier auf dieser Erde. Es ist ein wirklich spannendes Abenteuer und ich bin froh, Teil davon zu sein. Jedes Mal, wenn ich mich daran erinnere, wenn ich zum Beispiel mit einer Kartoffel spreche, wenn ich sie schäle, mich erinnere, dass wir eins sind, Materie und Geistiges Wesen, sie genauso wie ich, trage ich einen Teil bei zur Vervollkommnung der Welt.
Und jeder und jede von uns, die sich erinnert, und sei es auch nur für eine kurze Sekunde, trägt dazu bei, dass das große Abenteuer des Großen Göttlichen zu seiner Vervollkommnung geführt wird.
Sieh mich an. Ich bin alt. Und ich genieße jede Minute, die ich an dem Abenteuer hier auf der materiellen Seite der Welt teilhaben darf. Und glaub mir, Mädel, das ist nicht immer leicht. Aber irgendwann geh ich heim und schau mir das Ganze von der anderen Seite an.“

Die Alte zwinkerte dem Mädchen zu, strich ihr leicht über das Haar und ging hinaus. Leise schloss sie hinter sich die Tür.

 

 

zurück...